Interview
29.11.22
Boldt: „Wir haben weiter Appetit auf mehr“
HSV-Vorstand Jonas Boldt bewertet im Interview mit hsv.de das Fußballjahr 2022, benennt seine wichtigsten Erkenntnisse und gewährt Einblicke in seinen Umgang mit der aktuellen Rolle als alleiniger Vorstand.
Für die HSV-Profis beginnt ab morgen die Winterpause mit individuellen Trainingsprogrammen. Herr Boldt, Sie sind zuletzt noch ein paar Tage länger in den USA geblieben und erst am Wochenende zurückgekehrt. Was haben Sie mit Rückblick auf die vergangenen zwei Wochen aus Kalifornien mitgebracht?
Jonas Boldt: Jede Menge interessante Eindrücke, ein gutes Teamgefühl und viel positives Feedback aller Beteiligten sowohl vor Ort als auch intern. Alle haben bei unserer US-Tour gut mitgezogen und haben den HSV und damit auch den deutschen Profifußball sehr gut repräsentiert. Zudem hatten wir in Kalifornien wertvolle Gespräche und konnten neue Kontakte knüpfen.
In den zusätzlichen Tagen, in denen wir mit einer kleinen Delegation nach der Rückreise unserer Mannschaft noch in den USA geblieben sind, hatten wir wertvollen und sehr wertschätzenden Austausch mit Oliver Schramm, dem Generalkonsul San Francisco des Auswärtigen Amts, und haben tolle Einblicke ins Silicon Valley erhalten, außerdem die Deutsche Internationale Schule dort besucht. Alles in allem hat sich diese Reise für uns aus meiner Sicht gelohnt. Und ich möchte mich auch hier noch einmal bei allen Beteiligten bedanken. Die Gastfreundschaft in Kalifornien ist allen Mitreisenden positiv aufgefallen.
Das Fußballjahr 2022 ist für den HSV nun beendet. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen elf Monate?
Sicherlich ist es trotz aller Begleitumstände die positive sportliche Gesamtentwicklung. Dass unser Team im Kalenderjahr einen Schnitt von fast zwei Punkten pro Spiel geholt hat, ist aussagekräftig. Unsere Trainer und das Betreuerteam haben es geschafft, dass in unserem Umfeld zwischenzeitlich aufkommende Unruhe rund um den HSV weitgehend ausgeblendet wurde. Unser Motto lautete: Wir bleiben bei uns. Ich finde, dass das sowohl auf dem Platz als auch beim Transfergeschehen erkennbar war. Wir haben an Reife gewonnen, haben uns punktuell verbessert. Und es ist eine von beiden Seiten tragfähige Verbindung zwischen Mannschaft und Anhängerschaft entstanden, die ich für außergewöhnlich und erfolgsfördernd halte. Ich mache das nicht nur an den beeindruckenden Zuschauerzahlen bei unseren Partien fest, sondern auch am Wie, am Miteinander. Auch hier sind für mich stete Fortschritte erkennbar. Der altbekannte Spruch „Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen“ ist bei uns sicht- und hörbar. Das schürt gegenseitiges Vertrauen.
Einen weiteren Aspekt außerhalb des Sports und unserer Fankultur möchte ich auch benennen: Unsere Organisation hat sich in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht wieder eine Stufe hochgearbeitet. Andere Unternehmen wären angesichts der inhaltlichen und emotionalen Aufs und Abs in diesem Kalenderjahr bestimmt zerbrochen oder zumindest arg ins Wanken geraten. Das habe ich bei uns nicht festgestellt. Wir sind widerstandsfähig und kompetent aufgestellt. Es macht mir unheimlich viel Spaß, Teil dieser Organisation zu sein und gemeinsam etwas zu bewegen.
In welchen Bereichen sehen Sie noch die größten Entwicklungspotenziale?
Ich mag Schwarz-Weiß-Betrachtungen nicht. Wir sind in vielen Bereichen gut aufgestellt, in anderen sogar sehr gut und in wieder anderen auch etwas schwächer. Das gilt auf dem Platz und außerhalb. Aber wir sind nirgends perfekt, nirgends die Allerbesten. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir uns alle als Gemeinschaft und auch jeder Einzelne noch steigern können. Und genau das müssen wir weiterhin ausstrahlen: Lust auf Entwicklung, Lust auf Gewinnen. Wir haben weiter Appetit auf mehr.
"Die Nähe zwischen Mannschaft und Anhängerschaft ist ein Schlüssel für unseren Erfolg"
Der sportliche Erfolg und die Spielweise des Teams haben viele Fans über die außersportlichen Unruhen im HSV hinweggetröstet. Was hat die Zeit mit Ihnen persönlich gemacht?
Jede Herausforderung lässt dich reifen, wachsen. Ich bin nicht frei von Fehlern und reflektiere meine Entscheidungen, überprüfe meine Bewertungen. Dass Hamburg kein Ruhepol ist, wusste ich schon vor meinem Antritt hier. Aber wir wollen den Beweis erbringen, dass Zusammenhalt, Kontinuität, Akribie und etwas weniger Ich, dafür etwas mehr Wir die richtigen Zutaten für ein Aufwärtsrezept sind. Ich kann daher guten Gewissens sagen: Die Zeit hat mich angetrieben, natürlich hin und wieder auch mal geärgert und genervt, aber unterm Strich hat sich an meiner Motivation, hier etwas Positives zu bewegen, auch durch die Unruhe nichts geändert.
Nach dem Rücktritt Ihres Vorstandskollegen sind Sie seit mehreren Wochen alleinverantwortlich in der höchsten operativen Einheit der HSV Fußball AG. Wie war das für Sie?
Ich weiß, dass der Jahresausklang nach Rückblicken schreit. Aber ich möchte weder nachkarten, noch öffentlich bewerten. Ich bin hier trotz meiner aktuellen Rolle kein Alleinunterhalter. Wir arbeiten mit einem inhaltlich und personell starken Management Board, das unter meiner Federführung die operativen Geschicke leitet und nach vorne denkt.
Welche konkrete Bedeutung hat das Management Board?
Eine große, weil hier aus den unterschiedlichen Geschäftsfeldern unserer Organisation die Führungskräfte mit mir zusammenkommen und wichtige Entscheidungen getroffen bzw. wichtige Fragestellungen thematisiert und ggf. angegangen werden. Der Wandel der Gesellschaft und unseres wirtschaftlichen Umfelds findet dabei genau so eine Berücksichtigung wie wiederkehrende Kernaspekte: Finanzen, Recht, Kommunikation, Nachhaltigkeit, Marke und Fankultur. Wir wollen in unserer Gruppe zunächst nach Innen wirken, Richtungen vorgeben, mitnehmen und dann auch draußen Botschaften platzieren.
Dass wir dabei eine stete Entwicklung haben, auch strategische Veränderungen vornehmen, fällt den meisten wahrscheinlich gar nicht auf. Und das ist gut so, weil es eben nicht um Einzelne geht, sondern um den HSV in seiner Gesamtentwicklung. Nehmen wir zum Beispiel Cornelius Göbel, der seit ein paar Wochen als Stabstelle fungiert. Er verantwortet nun zentrale Themen als Chief of Staff and Culture & Identity, berichtet direkt an mich und soll zukünftig noch mehr Fokus auf Haltungs- und Kulturfragen sowie Fanaspekte richten. Wir halten das für einen wichtigen und richtigen Schritt, um unsere Organisation auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten und die Identität des HSV zu wahren und zu schützen.
Haben Sie eine Erklärung für den überwältigenden Zuschauerzuspruch? Mehr als 50.000 Zuschauer Mitte November gegen Regensburg und dann noch einmal gegen Sandhausen sind mehr als bemerkenswert.
Diese Frage habe ich ja schon beantwortet. Aus meiner Sicht gibt es nicht diese eine, pauschale Erklärung. Es ist das Geben und Nehmen. Es geht um eine Spielphilosophie, mit der sich unsere Fans und auch die neutraleren Zuschauer gut identifizieren können. Nicht nur, weil sie gute Unterhaltung bietet, sondern die Siegchancen auch erheblich vergrößert hat. Und zugleich merken die treuen Anhänger, dass unsere Fußballprofis und Verantwortlichen den Support, ihre Treue und Beharrlichkeit sehr wertschätzen. Ehrlich, authentisch, nicht aufgesetzt. Die Bindung und Nähe zwischen der Mannschaft und unserer Anhängerschaft ist auch ein Schlüssel für unseren Erfolg.
"Wir sagen etwas, falls es etwas zu sagen gibt"
Einige Zweitligaclubs haben bereits intensive Transferbemühungen für diesen Winter angekündigt. Wie geht der HSV transfertechnisch die Zeit bis zum Wiederbeginn im Januar an?
Ich könnte jetzt viel sagen, von einer permanenten Beobachtung des Marktes sprechen, von Karussells, die plötzlich in Bewegung geraten können usw. Aber einfacher ist doch Folgendes: Wir sagen etwas, falls es etwas zu sagen gibt.
Welche Rolle spielt dabei die nach wie vor ungeklärte Dopingproblematik um Mario Vuskovic?
Auch da möchte ich mich nicht an Spekulationen beteiligen. Die Lage ist für Mario und für uns alles andere als schön und klar. Bevor wir zur Thematik Stellung beziehen können oder sie gar bewerten, bedarf es noch einer großen Portion Aufklärung. Daran arbeiten wir gemeinsam mit Mario, diversen Experten und Juristen und natürlich mit dem verantwortlichen Verband.
Das Jahresende ist nicht nur geeignet für Rückblicke, sondern auch für Ausblicke. Wie und wo sehen Sie die nächsten Entwicklungsschritte? Welchen Themen muss sich der HSV in den kommenden Monaten und Jahren intensiv annehmen?
Im Fokus stehen sicherlich die schon so oft betonten Finanzierungsthemen rund um die notwendigen Baumaßnahmen in unserem Volksparkstadion. Darüber hinaus werden wir wie bisher viele Themen parallel behandeln – stets versehen mit einer klaren Prioritätenabwägung. Wir wollen nichts dem Zufall überlassen und unseren Weg weitergehen.
Danke für das Gespräch.