Verein
05.10.24
„Jimmy“ Hartwig: 70 Jahre das pure Leben
Fußballer, Trainer, Schauspieler, Sänger, Botschafter, Lebemann und selbsternannte „Rampensau“ – vor allem aber eines: Mensch. Mit Ex-Nationalspieler „Jimmy“ Hartwig feiert eine der schillerndsten HSV-Persönlichkeiten ihren 70. Geburtstag.
Allein seine fußballerische Laufbahn ist aller Ehren wert: Mehr als 450 Spiele bestritt William Georg Hartwig-Almer, kurz nur „Jimmy“ Hartwig genannt, zwischen 1973 und 1988 auf mitunter höchstem Level. 239-mal und damit den Großteil seiner Spieler-Karriere trug der gebürtige Offenbacher dabei die Raute auf der Brust. „Einmal Raute, immer Raute. Das ist so im Leben“, sollte er Jahrzehnte später noch immer mit großer Verbundenheit auf seine Zeit im HSV-Trikot zurückblicken. Schließlich prägte der defensive Mittelfeldspieler die erfolgreichste Ära des Clubs entscheidend mit, gewann mit den Rothosen drei deutsche Meisterschaften (1979, 1982 und 1983) und den Europapokal der Landesmeister (1983).
Dabei wirkte die HSV-Legende beim größten Triumph der Vereinsgeschichte nicht etwa auf dem Spielfeld in Athen mit, sondern stand am Finalabend im ZDF-Studio an der Seite von Moderator Harry Valerien. Da er für das Endspiel gegen Juventus Turin (1:0) gesperrt war, präsentierte Hartwig als Experte den mehr als 18 Millionen Zuschauern an den TV-Bildschirmen das Geschehen. Rund 2.000 Kilometer entfernt holten die Hamburger auch für ihn, den Gute-Laune-Bären der Mannschaft, den Titel. Unvergessen sind die Szenen bei der Rückkehr am Hamburger Flughafen, als Hartwig seine Teamkollegen und den Henkelpott sehnsüchtig auf dem Rollfeld erwartete (Foto). Es sind Szenen mit Symbolcharakter, „verpasste“ Hartwig ja eigentlich den größten Erfolg seiner sportlichen Laufbahn, um doch als Teamplayer mit jeder Körperfaser vollends dabei zu sein und zugleich anzudeuten, dass er über den Fußball hinaus noch mehr zu bieten hat, ein geborener Entertainer und Künstler ist.
Von weit unten nach ganz oben
Am 5. Oktober 1954 kam „Jimmy“ Hartwig in Offenbach am Main als Sohn eines US-Soldaten und einer deutschen Mutter zur Welt. „Den Titel Vater hat er nicht verdient“, erklärte Hartwig erst in diesem Jahr bei einer Veranstaltung im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Der Unteroffizier aus Kentucky hatte in seinem Leben gänzlich gefehlt, war zwei Monate vor seiner Geburt in die USA zurückgekehrt. Hartwigs Lebensweg war als schwarzes Besatzungskind dennoch entscheidend durch ihn geprägt worden, wuchs er nicht nur in ärmlichen Verhältnissen, sondern auch in einem Nachkriegsdeutschland auf, wo das Rassendenken des NS-Regimes noch nachwirkte. In Hartwigs Fall innerhalb der eigenen Familie. „Mein Großvater war ein richtiger Nazi“, sagt die HSV-Legende heute, während er damals – wohlgemerkt als Kind – dessen Abneigung spürte, vor Schlägen und Quälereien flüchtete. „Meine Mutter musste immer aufpassen, dass er mir als kleines Kind kein Kissen ins Gesicht drückt.“
Auch unter Spielkameraden und in der Schule traten rassistische Grausamkeiten auf. Zufluchtsort und Rettung zugleich war für „Jimmy“ der Fußball. Auf dem Fußballplatz verschaffte er sich mit seinem Spiel Respekt, begann in jungen Jahren bei den Kickers Offenbach, bei denen er später auch zum Profi avancierte. Anschließend gelangte er über den TSV 1860 München, den er zum Bundesliga-Aufstieg schoss, zum Hamburger SV und debütierte im Jahr 1979 sogar für die deutsche Nationalmannschaft. Größter Förderer auf diesem beeindruckenden Weg war Trainerlegende Ernst Happel (Foto), den Hartwig einst als Ziehvater bezeichnete – „Er hat mich geprägt, durch ihn habe ich im Fußball alles erreicht.“
Rassistische Anfeindungen – das zeigt auch der 2021 erschienene und sehenswerte Dokumentarfilm „Schwarze Adler“ mit Hartwig als Interviewgast eindrücklich – verstummten trotz des sportlichen Aufstiegs und der Titel nicht. Viel mehr fanden sie nun etwa in Form geschmackloser Gesänge auf öffentlicher Bühne statt. Doch Hartwig konterte den gegnerischen Fankurven auf seine Weise, indem er sich mitunter vor die Menge stellte und das heute Unsagbare dirigierte.
Achterbahnfahrt durch ein bewegtes Leben
Erneut ein Bild, das zum Typen „Jimmy“ Hartwig passte: klare Kante, große Klappe, ein gutes Gespür für die Inszenierung und zugleich die fortwährende Suche nach der eigenen Identität. „Meine Vergangenheit hat mich stark gemacht, deshalb habe ich so eine große Fresse. Ich will alles mit Worten regeln“, erklärte Hartwig im April dieses Jahres anlässlich seiner Funktion als EM-Botschafter in einem Interview mit dem STANDARD. Hartwig ist dem Fußball bis heute treu geblieben, wenngleich er nach seiner aktiven Karriere, die ihn nach dem HSV noch zum 1. FC Köln, Austria Salzburg und dem FC 08 Hamburg führte, eine Achterbahnfahrt durch ein buntes, wildes und schicksalhaftes Leben absolvierte.
Als Fußballtrainer im unmittelbaren Anschluss an seine Spielerlaufbahn weniger erfolgreich, erlebte Hartwig viele persönliche Krisen: Finanzielle Schwierigkeiten, Drogenmissbrauch, Scheidungen, Krebserkrankungen und Suizidgedanken ließen den ehemaligen Bundesliga-Star mehrfach fallen. Doch Hartwig wäre nicht Hartwig, wenn er nicht immer wieder einmal mehr aufgestanden wäre und ihn sein großes Kämpferherz zurück ins Leben geführt hätte. Dieses Mal nicht mithilfe des Fußballs, sondern der Kunst, genauer gesagt der Schauspielerei. Klar, da war im Jahr 2004 die publikumswirksame – und wie er offen zugibt finanziell lukrative – Teilnahme am Dschungelcamp, aber viel mehr machte sich Hartwig in den vergangenen zwei Jahrzehnten nachhaltig einen Namen auf der Theaterbühne. Dort glänzte er unter anderem mit dem autobiografischen Stück „Eine Legende liegt auf der Couch“, basierend auf seiner 1994 erschienen ersten Biografie „Ich möchte noch so viel tun …“.
Immer Kämpfer geblieben
Hartwig tat noch viel, bekämpfte den Krebs ein weiteres Mal und veröffentliche 16 Jahre später im Jahr 2010 seine zweite Biografie unter dem Titel „Ich bin ein Kämpfer geblieben. Meine Siege, meine Krisen, mein Leben“. Es ist ein facettenreiches Leben, in dem Hartwig gelacht, geweint, gespielt, gelebt, geliebt und gelitten hat. „Ja, ich bin eine Rampensau. Ich will den Leuten den Spiegel vorhalten. Viele Menschen lügen sich selbst an. Ich hingegen weiß, dass ich oft scheiße gebaut habe“, so Hartwig im besagten Interview. Und der ehemalige Fußballer, heutige Künstler und große Familienmensch, der drei Kinder hat und seit 14 Jahren mit seiner vierten Ehefrau Stefanie Almer, deren Nachnamen er zu seinem dazunahm, leiert ist, hat aus all dem Erlebten immer wieder gelernt. „Jeder Tag, an dem du nicht schon nach dem Aufstehen lächelst, ist ein verlorener Tag“, erklärt er, der mit Humor, Respekt und Miteinander durchs Leben geht und seinen Mitmenschen begegnet. Wer sollte es besser wissen als jemand, der so viel im Fußball wie im Leben durchgemacht hat. Danke für all die besonderen Momenten mit der Raute auf der Brust, das Nicht-Verstellen und einfach „Mensch-Sein“, lieber „Jimmy“! Und natürlich nur das Beste zu deinem heutigen Ehrentag!