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27.01.25
Gemeinsam gegen Antisemitismus: Der HSV und die Bornplatzsynagoge
Im Interview erklärt Daniel Sheffer, Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge, wie der HSV Verantwortung übernimmt, jüdisches Leben unterstützt und gegen Antisemitismus ein Zeichen setzt.
Auf dem Foto oben halten Daniel Sheffer (links) und Rabbiner Shlomo Bistritzky (rechts) gemeinsam die 1938 gestohlene Krone aus der berühmten Bornplatzsynagoge hoch – ein symbolträchtiger Moment, der die bewegende Geschichte dieses außergewöhnlichen Fundes lebendig werden lässt. Das Interview, das anlässlich des 21. Erinnerungstages des deutschen Fußballs geführt wurde, berichtet darüber, wie es zu diesem Fund kam, welche Bedeutung die Bornplatzsynagoge hat und welche Rolle der HSV bei der Unterstützung der jüdischen Gemeinde spielt.
HSV.de: Wie kam es dazu, dass der HSV die Initiative zum Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge unterstützt?
Daniel Sheffer: Der HSV unterstützt den Bau einer Synagoge, klingt das nicht ungewöhnlich? Tatsächlich hat unser HSV vor Jahren begonnen, die Bedeutung seiner jüdischen Mitglieder und Sportler zu entdecken. Unsere jüdischen HSV-Mitglieder wurden während des Deutschen Reichs verfolgt, vertrieben oder ermordet. Die Synagoge stand auf dem Bornplatz und der befand sich in direkter Nähe zu unserem historischen Spielort am Rothenbaum. In der Reichspogromnacht von 1938 wurde die Bornplatzsynagoge geplündert, die wertvollen Gegenstände von den Nazis gestohlen und das Gebäude anschließend in Brand gesetzt. Kaum ein Hamburger leistete Widerstand oder schützte seine jüdischen Nachbarn, Kollegen, Mitschüler oder Sportfreunde vor Verfolgung durch die Nazis. Heute will unser HSV ein anderes Zeichen setzen. Durch die engagierte Arbeit des HSV, insbesondere von Dr. André Fischer (Referent Soziale Verantwortung & Identität) und Cornelius Göbel (Direktor Fans, Kultur & Markenidentität, beide HSV Fußball AG), sowie die Unterstützung der Vereinsführung beteiligt sich unser Verein aktiv am Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge.
Welche Bedeutung hat das für Sie persönlich?
Als Butsche habe ich Mighty Mouse am Ball gesehen, und seitdem verpasse ich kaum ein Spiel unserer Mannschaft. Wie jeder von uns habe ich meine Glücksmomente und traurigen Niederlagen mit unserem HSV erlebt. Doch alle diese Erlebnisse machen aus, wer wir sind. Unser HSV verbindet Menschen, und es macht mich stolz, dass wir gemeinsam mit unserem HSV gegen Antisemitismus aufstehen.
Welche Bedeutung hat der Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge für die jüdische Gemeinschaft in Hamburg und darüber hinaus?
Bekannt ist, dass der Holocaust die größte Mordmaschine war. Durch die Nazis wurden über sechs Millionen Juden in Europa ermordet; weitere Millionen wurden verfolgt und vertrieben. Zu wenig Beachtung findet, dass der Holocaust der vielleicht größte Raub der Menschheitsgeschichte war. Jüdischen Mitbürgern wurde ihr gesamtes privates Eigentum und Vermögen geraubt. Auch die zahlreichen Synagogen, Schulen. Krankenhäuser, Altersheime, Stiftungen und vieles mehr wurden geraubt. Unsere Generation hat aber keine dieser Taten begangen, ist schuldlos am Mord und Raub der Vorfahren. Doch es ist geschehen, es ist von deutschem Boden ausgegangen. Der überragend große Teil unserer Vorfahren war am Mord und Raub an der eigenen Bevölkerung beteiligt. Manche als Täter, viele haben weggesehen. Heute ist mir die folgende Bedeutung wichtig: Mit dem Wiederaufbau erhält unsere Generation eine historische Chance. Wir können den Holocaust nicht ungeschehen machen, aber wir können die richtige Entscheidung treffen. Heute schaffen wir ein Stück Gerechtigkeit. Anders als vor 80 Jahren, heute beschützen wir Juden vor Vorurteilen und Gewalt.
Was hat Sie dazu bewogen, sich für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge zu engagieren, und wie hat dieses Engagement Ihr eigenes Leben beeinflusst?
Kennt ihr die Indiana-Jones-Filme? Meine Antwort klingt fast wie das Drehbuch zu einem solchen Film. Es geschah mitten in der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde, Shlomo Bistritzky, bat mich, ihn zu einem Antiquitätenhändler in Hamburg zu begleiten. Dort wurde uns ein scheinbar wertvoller Gegenstand aus Silber angeboten. In einer Hutschachtel, in Papier eingewickelt, entdeckten wir eine antike, silberne Krone. Kronen wie diese gab es vor dem Zweiten Weltkrieg in Synagogen wohlhabender jüdischer Gemeinden. Doch diese Krone war anders, etwas Besonderes. Wir identifizierten eine hebräische Widmung – der Text ließ keinen Zweifel: Es war die 1938 gestohlene Krone aus der berühmten Bornplatzsynagoge. Nach über 80 Jahren hielten wir – vermutlich als erste Juden – diesen stummen Zeugen der Reichspogromnacht in unseren Händen. Zwei Gefühle begleiten mich seit diesem Tag: Wut, weil ich die Krone, die unseren Vorfahren gestohlen wurde, zurückkaufen musste. Ich zahlte für etwas, das uns geraubt wurde. Aber auch Glück, weil wir mit dieser Krone einen Überlebenden der Reichspogromnacht zurück in die Hände der jüdischen Gemeinschaft brachten. Mir wurde klar, die Krone muss wieder an ihren Platz. Die Ungerechtigkeit am Bornplatz muss enden, so begann mein Engagement.
Welche Rolle können Sportvereine wie der HSV Ihrer Meinung nach im Kampf gegen Antisemitismus spielen?
Wusstet ihr, was heute Wirklichkeit ist? Deutsche Sportvereine mit jüdischen Mitgliedern, wie Makkabi Frankfurt, können praktisch kein Fußballspiel mehr ohne Polizeischutz austragen. Jüdische Sportler und Zuschauer werden bei Spielen angegriffen. Sport unter Polizeischutz – wollen wir das in Deutschland im Jahre 2025 wirklich akzeptieren?
Welche Maßnahmen sollte der HSV ergreifen?
Nichtstun ist keine Option. Der HSV hat die Reichweite, um Zeichen gegen Antisemitismus sichtbar zu machen. Vereine können und müssen mehr leisten: Sport und Training formen und fördern den Charakter von Spielern und Athleten. Viele Sportler kommen aus unterschiedlichen Herkünften und bringen Unwissenheit oder Vorurteile mit auf den Sportplatz. Genau hier beginnt unsere Verantwortung als HSV – und hier liegt unsere Chance, Werte zu vermitteln, sowohl auf als auch abseits des Platzes. Kein Spieler, kein Funktionär und kein Mitglied sollte unseren Verein vertreten, wenn er nicht zu unseren Werten steht – und erst recht nicht, wenn er sich gegen Demokratie, Freiheit oder jüdisches Leben äußert. HSVer müssen diese Werte leben und vermitteln. Erinnerungsarbeit darf nicht nur ein Blick in die Vergangenheit sein – sie muss spannend, erlebnisreich und zukunftsgerichtet gestaltet werden. Freundschaftsspiele und Fanfreundschaften mit jüdischen Vereinen schaffen sportlichen und persönlichen Austausch. Gedenkveranstaltungen, wie am 27. Januar, setzen wichtige Zeichen. Die eigene Geschichte zu kennen und die Erinnerung an jüdische Mitglieder durch Patenschaften oder Stipendien lebendig zu halten, sind weitere Wege. Wie gesagt: Nichtstun ist keine Option.
Viele jüdische HSV-Mitglieder mussten während der Zeit des Nationalsozialismus fliehen oder wurden verfolgt. Deine Familie hat ebenfalls eine Fluchtgeschichte. Magst du uns kurz davon erzählen?
Mein Vater wurde im Alter von zwölf Jahren der einzige Überlebende seiner gesamten Familie. Ihm gelang die Flucht. Seine Eltern, meine Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen – sie alle wurden gefangen und ermordet. Niemand hat ihnen geholfen. Anders die Geschichte meines Schwiegervaters: Er und seine Mutter wurden in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen von mutigen Menschen versteckt und so vor der Ermordung gerettet. Heute glaube ich, dass diese Retter unsere Vorbilder sein müssen. Sie haben bewiesen, was damals wie heute gilt: Jeder von uns hat eine Wahl – wegschauen oder handeln und retten.
Wie hat sich Ihrer Wahrnehmung nach das Leben von jüdischen Menschen in Deutschland seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 in Israel verändert?
Am 7. Oktober 2023 wurden auf israelischem Boden über 1.300 Menschen von Terroristen aus dem Gazastreifen, der von der Hamas kontrolliert wird, ermordet – darunter auch zahlreiche Deutsche. Es war ein Samstagmorgen, als Menschen beim Frühstück, im Schlaf oder während eines Musikfestivals überrascht wurden. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, Babys und Kinder vor den Augen ihrer Eltern lebendig verbrannt. Viele dieser abscheulichen Taten wurden von den Tätern gefilmt und live ins Internet gestellt. Die Unmenschlichkeit wurde mit der Unendlichkeit des Internets geteilt. Mit diesem Tag begann der Krieg in Israel – und gleichzeitig hat sich das Leben für uns als jüdische Menschen in Deutschland katastrophal verändert. Deutsche, die eine Davidsternkette tragen, werden bedroht und angegriffen, jüdische Schüler und Studierende an Schulen und Universitäten angefeindet. Auf den Straßen regieren Extremisten, die Juden bedrohen. Jedes öffentliche Gebäude mit jüdischem Leben steht unter Polizeischutz. Wer regiert gerade unser Leben in Deutschland – Demokratie und Freiheit oder Gewalt und Extremismus?
Was wünschen Sie sich konkret vom HSV, um ein Zeichen für Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft zu setzen?
Manchmal höre ich Menschen sagen „Ich möchte mich nicht einmischen“ oder „Das ist alles kompliziert in Israel“. Völlig falsch. Früher, heute und auch in Zukunft muss eines klar sein: Es gibt keine Rechtfertigung, jüdische Menschen zu bedrohen, Synagogen zu schänden oder Menschen mit einem Davidstern anzugreifen. Es ist nicht kompliziert, sondern ganz einfach: Nichts rechtfertigt die Verbrechen von Terroristen. Deshalb erwarte ich, nicht wegschauen oder unbeteiligt zu bleiben. Für unseren HSV gilt dasselbe wie für uns alle: Wir haben eine Wahl. Welcher Deutsche wollen wir sein?