Verein
05.01.22
„Leitplanken definieren“
Dr. Thomas Wüstefeld, ab morgen vom Aufsichtsrat entsandter kommissarischer Vorstand der HSV Fußball AG, erklärt die jüngsten Entwicklungen und seine neue Rolle.
HSV.de: Herr Dr. Wüstefeld, erst kürzlich wurden Sie Gesellschafter und Aufsichtsrat sowie Aufsichtsratsvorsitzender der HSV Fußball AG, jetzt werden Sie vom Kontrollgremium kommissarisch für ein Jahr in den Vorstand entsandt. Können Sie uns diesen rasanten Positionswechsel erklären?
Dr. Thomas Wüstefeld: Tatsächlich waren einzelne Momente ausschlaggebend für jeden Schritt. Ich war und bin Fan des Hamburger SV, so wurde ich zum Anteilseigner. Vom neu formierten Kontrollgremium wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, den Vorsitz zu übernehmen. Das hat mich sehr geehrt und ehrt mich auch heute noch – also habe ich zugesagt. Schon während meiner Einarbeitung als Aufsichtsratsvorsitzender habe ich wertvolle Einblicke bekommen und viele konstruktive Diskussionen zur Entwicklung der HSV Fußball AG geführt. In diesen zugegebenermaßen wenigen Wochen bin ich immer tiefer in die Inhalte eingetaucht. Darüber hinaus haben wir im Aufsichtsrat angesichts der weiteren Pandemie-bedingten Einschnitte schnell die Notwendigkeit identifiziert, diverse Themen, die auch abseits des Sports Relevanz über die Saison hinaus haben, bereits jetzt anzugehen. Um einen Vorstandswechsel inmitten eines solchen laufenden Umstellungsprozesses im Sommer zu vermeiden, hat der Aufsichtsrat das Gespräch mit Frank Wettstein gesucht, um Möglichkeiten einer einvernehmlichen Trennung bereits vor Ende der Saison auszuloten. Um andererseits aber mit der gebotenen Ruhe an einer langfristigen Nachbesetzung der Position von Frank Wettstein arbeiten zu können und die angestoßenen Prozesse mit einer gewissen Kontinuität zu begleiten, haben mich die anderen Aufsichtsräte dann gefragt, ob ich mir eine kommissarische Entsendung in den Vorstand, die ja schon aktienrechtlich auf maximal ein Jahr begrenzt ist, vorstellen könne. Ich habe darüber nachgedacht, mich selbstverständlich auch mit meiner Familie beraten und eine Antwort gegeben: Ja.
"Die Zeit nutzen, um die Entwicklung des HSV zu einem noch wettbewerbsfähigeren Verein im deutschen Profifußball voranzutreiben"
Und warum genau jetzt?
Weil es gerade in Anbetracht der Corona-Folgen und des ohnehin bevorstehenden Abschieds von Frank Wettstein der richtige Zeitpunkt ist, um mit dem Aufsichtsrat und auch mit dem Gesellschafterkreis Leitplanken zu definieren und diese aus der operativen Verantwortung heraus einzusetzen. Ich möchte es mal etwas bildhafter und damit vielleicht verständlicher beschreiben: Oft war es beim HSV in der Vergangenheit doch so, dass ein Hauptdarsteller verpflichtet und das Drehbuch für ihn angepasst wurde oder er es sogar formuliert und entsprechende Besetzungen selbst entschieden hat. Das müssen und wollen wir verändern. Wir werden ein Drehbuch für den HSV entwerfen, das natürlich auch immer wieder an die aktuellen Entwicklungen angepasst wird, aber in den Grundzügen den gemeinsam definierten Leitplanken entspricht. Auf dieser Basis sollen dann Positionen besetzt werden, auch Hauptdarsteller. Ich möchte meine begrenzte Zeit als kommissarischer Vorstand nutzen, um die Entwicklung des HSV zu einem noch wettbewerbsfähigeren Verein im deutschen Profifußball voranzutreiben.
Sie sprechen von „begrenzter Zeit“. Da könnten bei einigen Kritikern und Skeptikern Erinnerungen an einen Vorstandsvorgänger aufkommen, der auch aus dem Aufsichtsrat kam.
Ja, mit diesen Vermutungen und Parallelen müssen wir, muss vor allem ich leben. Aber das kann ich auch, weil es entscheidende Unterschiede gibt. Erstens bin ich der erste persönliche Gesellschafter, der kommissarisch als Vorstand eingesetzt wird. Zweitens findet diese Entsendung bewusst und gemäß Aktiengesetz nur für zwölf Monate statt. Und drittens lasse ich mir meine Tätigkeit für den HSV nicht vergüten, ich arbeite pro bono.
Sie waren auch schon vor Ihrem HSV-Engagement ein viel beschäftigter Unternehmer. Bringen Sie genug Zeit für die neue Rolle mit?
Auf jeden Fall. Die Entscheidung zu diesem Schritt ist wohl überlegt und wurde natürlich auch intensiv mit meinem Family Office und auch in der Familie besprochen. Ich werde viel Zeit im Volkspark verbringen, um die Entwicklung gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen voranzutreiben. Und bevor Sie nachfragen: Mein Hauptarbeitsplatz wird hier beim HSV sein.
"Meine Person bzw. die Bedeutung meiner Person ist unerheblich, ich orientiere mich an Prozessen und an Themen"
Wie sehen Ihre ersten Maßnahmen aus, was gehen Sie als erstes an?
Zunächst einmal geht es – und zwar stetig – um einen engen Austausch mit meinem Vorstandskollegen Jonas Boldt. Und dann stehen gerade auch in Anbetracht der zu erwartenden Einbußen in diesem Geschäftsjahr sehr viele Gespräche zur Stabilisierung der HSV-Gesamtlage an, darüber hinaus viele zukunftsträchtige Gespräche für die kommenden Spielzeiten u. a. mit Banken, mit der Stadt, mit Sponsoring-Partnern und mit unserem Vermarkter. Außerdem gibt es natürlich auch sehr aktuelle Themen. Ich werde jetzt schnell Kontakt zur Hamburger Politik aufnehmen, um die aus meiner Sicht nicht nachvollziehbare Corona-Behandlung bzw. den Zuschauerausschluss für den Hamburger Profisport im Vergleich zum Amateursport oder auch zur Kultur anzusprechen und dort unsere Position zu vertreten. Da gibt es viel Gesprächs- und Erklärungsbedarf.
Wie werden Sie Ihre Rolle grundsätzlich interpretieren und ausüben? Wie sind Sie als Führungskraft?
Ich werde sie so ausüben, wie es für einen Vorstand notwendig ist: Das Bestmögliche für seine Organisation, also für unseren HSV, herausholen. Meine Person bzw. die Bedeutung meiner Person ist dabei unerheblich. Ich orientiere mich an Prozessen und an Themen. Als Führungskraft bin ich ein Teamplayer. Ich übertrage gern Verantwortung, wenn ich die Dinge nachvollziehen kann und sie für richtig erachte. Und ich bin sehr hartnäckig, wenn es darum geht, so lange zu bohren, bis alle Facetten beleuchtet sind.
Vielen Dank für das Gespräch.